Verrückt, verrückter, Valdivia!
Ballkünstler zwischen Genie und Wahnsinn
Im Februar 2004 übernahm der ehemalige Spielervermittler Marc Roger das Ruder beim Servette FC. Für einen symbolischen Franken sicherte sich der Franzose, zusammen mit unbekannten Mitinvestoren, das Aktienmehr des 17-fachen Schweizermeisters. Es folgte eine Wechselorgie in der Sommerpause. Ein paar Monate später war der angeschlagene Klub bankrott. Es war die dunkelste Zeit in der Geschichte des Servette FC. Nur wenige gute Erinnerungen bleiben an die Saison 2004/2005 zurück. Die bedeutendste davon dürfte wohl die Verpflichtung des französischen Weltmeisters Christian Karembeu gewesen sein. Eine andere das Leihengagement von Jorge Valdivia.
Mit dem knapp 21-jährigen Chilenen lotste Roger einen Rohdiamanten nach Europa. Valdivia war alles - ausser langweilig. Mit seinem unglaublichen Ballgefühl und seinem exzentrischen Charakter war er ein Farbtupfer auf den hiesigen Fussballplätzen. Er war einer dieser "Spektakelspieler", die eine Partie im Alleingang entscheiden konnten. Qualitäten, die er aufgrund des Konkurses nur zu wenig demonstrieren konnte. Man hätte ihn gerne noch länger im Servette-Trikot gesehen. Elf Mal lief er für die Grenats auf. Dabei sollten ihm drei Tore und zwei Assists gelingen. Zwei Mal fliegt er mit Gelb-Rot vom Platz. Unvergessen bleibt dabei das Heimspiel gegen den FC Thun im September 2004.

Foto: Eric Lafargue / super-servette.ch
Es war Valdivias dritter Auftritt für den SFC. Der FC Thun, damals auch schon Überraschungsleader, ging durch Mauro Lustrinelli in Führung. Noch vor dem Tee glich João Paulo, später auch bei YB erfolgreich, für die Hausherren aus. Im zweiten Durchgang drückte Servette auf das Siegtor. Dabei versuchte sich das Team von Adrian Ursea mit unlauteren Mitteln. Valdivia ging nach 88 Minuten im gegnerischen Strafraum zu Boden. Schiedsrichter Circhetta roch den Braten und entlarvte die Schwalbe des Offensivspielers. Der Unparteiische zückte die gelbe Karte und verwarnte den Servettien. Nur zwei Minuten später kam Servette zu einem Eckball. Stéphane Ziani trat diesen zur Mitte, wo Valdivia den Kopf hinhielt und zum 2:1 versenkte! Beim Jungspund gingen die Emotionen durch. Voller Euphorie rannte er zur Eckfahne, entledigte sich seines Shirts und wickelte es um die Plastikstange. Diese funktionierte er dann zu einer "Servette-Fahne" um und rannte fahnenschwenkend vor der Tribune Nord hin und her. Circhetta goutierte den (wahrscheinlich) übertriebensten Torjubel des Jahrzehnts mit Gelb-Rot. RTS hat das Video dazu noch immer in seinem Online-Archiv.
Nach dem abrupten Ende seiner Zeit in der Schweiz kehrte Valdivia zu seinem Jugendklub zurück. Beim CSD Colo-Colo reifte er zu einem Spieler von internationalem Format. Bereits 2004 feierte er sein Debüt im chilenischen Nationalteam. Ab 2005 stand der Zauberfuss regelmässig im Aufgebot der Südamerikaner. Im Dress von "la Roja" macht er auf sich aufmerksam. Fussballgrössen wie Carlos Valderrama und der grosse Pelé schwärmten vom Edeltechniker. Man prophezeite eine Weltkarriere - zu dieser sollte es allerdings nicht kommen.
Von einem Fettnäpfchen ins nächste
So begnadet der Fussballer Valdivia war, so chaotisch und unausgeglichen war der Mensch dahinter. Trotz Kontakten zu Hertha BSC, das damals noch eine feste Grösse in der 1. Bundesliga war, schaffte es der offensive Mittelfeldspieler nie mehr nach Europa zurück. Einen Grossteil seiner Karriere verbrachte er bei der SE Palmeiras in Brasilien. Beim Klub aus São Paulo begeisterte er mit seiner genialen Technik. Diese verhalf ihm, in einem späteren Engagement beim Al-Wahda FC (Vereinigte Arabische Emirate), zu seinem Spitznamen "el Mago" (der Magier). Auch wenn es national zu Titelgewinnen mit seinen Klubs kam, waren Valdivias Eskapaden neben dem Platz in den Medien deutlich präsenter.
Anlässlich der Copa América gastierte die chilenische Landesauswahl 2007 in einem Hotel in Puerto Ordaz (Venezuela). Zusammen mit fünf Teamkollegen zelebrierte Valdivia im Hotelrestaurant den Viertelfinaleinzug der Kontinentalmeisterschaft. Es floss reichlich Alkohol. Wie die spanische Zeitung "El Mundo" damals berichtete, sollen die Fussballer Angestellte des Hotelrestaurants angepöbelt haben. Eine weibliche Mitarbeiterin soll zu Oralverkehr aufgefordert worden sein. Als die Security herbeigerufen wurde, sollen Stuhlpolster aufgeschnitten worden sein. Später wurde auch ein Badzimmer im Hotel demoliert. "Rädelsführer" Valdivia wurde vom chilenischen Fussballverband intern für 20 Spiele gesperrt. Der Beschuldigte gab seinen Rücktritt aus dem Nationalteam. Nach 13 Partien begnadigte der Verband seinen Mittelfeldregisseur. Dieser gab wiederum seinen "Rücktritt vom Rücktritt".
Viel aus der Situation gelernt, hatte der ehemalige Servettien aber nicht. Nur vier Jahre später folgte die nächste Eskapade. Während eines Zusammenzugs von Chiles Nationalmannschaft, es ging um die Qualifikation für die FIFA Weltmeisterschaft 2014, gewährte Trainer Claudio Borghi seinen Spielern einen freien Abend. Zusammen mit vier Mitspielern, darunter Ex-Servettien Jean Beausejour und Arturo Vidal (damals Juventus, später Bayern & Barcelona), ging es auf eine Sauftour. Komplett betrunken und 45 Minuten zu spät, kehrte die Gruppe ins Mannschaftshotel zurück. "L'essentiel" berichtete damals ebenfalls von 20 Spielsperren, welche als Sanktion ausgesprochen worden sind. Auch hier knickte der Verband später ein und schraubte die Anzahl Sperren um die Hälfte herunter.
Wer meint, dass Valdivias Zeit bei "la Roja" nur von Negativschlagzeilen und internen Sperren geprägt war, der irrt. 2015 war "el Mago" ein wichtiger Bestandteil der Mannschaft, welche die Copa América gewinnen konnte. Es war der erste "Copa-Titel" für die Chilenen, welche den Triumph erst noch im eigenen Land feiern durfte. Im Finale setzte man sich im Elfmeterschiessen gegen das favorisierte Argentinien von Lionel Messi durch.
Nebst dem Erfolg an der "Copa" lief Valdivia auch 2010 und 2014 für seine Heimat an der FIFA Weltmeisterschaft auf. Dabei traf er in Südafrika auch auf die Schweiz.
Auch nach dem Karriereende wird es nicht ruhig
Als Fussballer hat Valdivia mittlerweile ausgedient. 2022 hängte er seine Schuhe in Mexiko an den Nagel. Lange musste man dennoch nicht auf neue Skandale warten. Im Oktober 2024 wurde dem Ex-Fussballer eine Vergewaltigung vorgeworfen. Der Ehemann einer in Chile bekannten TV-Moderatorin wies die Anschuldigungen zurück und sprach von einem "einvernehmlichen Akt". Weil Ärzte entsprechende Verletzungen bei der Frau feststellen konnten, kam es dennoch zu einer Verhaftung. So schreibt es "Tag 24" unter Berufung südamerikanischer Quellen. In der Zwischenzeit ist Valdivia wieder auf freiem Fuss - zumindest halbwegs. Der mittlerweile 42-jährige steht von 22:00 - 05:00 Uhr unter Hausarrest. Diesen sitzt er im Haus seiner "Noch-Ehefrau" ab. Der Scheidunsprozess wurde eingeleitet.
Trotz seiner schwerwiegenden Skandale erfreut sich "el Mago" in seiener Heimat noch immer grosser Beliebtheit. Rufe nach "Cancel Culture" scheinen irgendwo in den Anden zu verhallen. An diesem Samstag wurde er als einer der "Stars" für ein Gala-Spiel in La Florida eingeladen. Dort wird der einstige Mittelfeldregisseur an der Seite von chilenischen Fussballgrössen wie David Pizarro (Ex-AS Roma), oder Iván Zamorano (Ex-Real Madrid und FC St. Gallen 1879) auflaufen. Diese Teilnahme stand zuletzt auf der Kippe. Gemäss dem chilenischen Radiosender "ADN" habe Valdivia, wie könnte es anders sein, drei Mal die Antrittszeit seines nächtlichen Hausarrests nicht eingehalten. Es drohte ein strikter Hausarrest. Dieser konnte abgewendet werden. Dennoch muss der Ex-Internationale das Stadion frühzeitig verlassen, um pünktlich zu Hause zu sein. Es gäbe keine Ausnahme für den umstrittenen Volkshelden.
Es ist traurig zu sehen, was aus dem ballverliebten Offensivkünstler geworden ist. Valdivia war in der Tat ein Magier. Wäre er doch bloss der "schwarzen Magie" fern geblieben. Szenen wie unten im Video lassen seine Klasse aufblitzen. Es scheint, als hätte Valdivia einen Teil seines Talents verschenkt.